Vor kurzem kam ich von einer Supervisionen in einer Kindertageseinrichtung nachhause, da merkte ich bereits nur beim Betreten des Hauses, dass heute unsere Zwillingsmädchen emotional hochexplosiv angespannt waren. Ein schluchzendes Erstklassmädchen lag am Boden, den Kopf unter einem Kissen vergraben und wiederholte immer wieder: „Nein, ich schreibe dieses Diktat nicht noch einmal!“ Ich kann Deutsch einfach nicht.“ Das andere Mädel triumphierte in den höchsten Tönen: „Ja, ich musste nur zwei Wörter schreiben! Habe ich schon alles gemacht. Kann ich raus zum Spielen gehen?“ Irgendwas scheint doch hier nicht zu stimmen, war sofort meine erste Intuition. So konträre Äußerungen über einen ähnlichen Sachverhalt?
Heraus kam, dass unsere Schulmädels ihr erstes Diktat geschrieben haben. Es ging hier vorrangig um die Rechtschreibung, wobei Groß- und Kleinschreibungen sowie Satzregel nicht beachtet wurden. Unsere triumphierende kleine Maus, hatte hierbei zwei Wörter nicht korrekt geschrieben, so dass sie diese als Hausaufgaben jeweils in korrekter Weise nochmals schreiben und damit üben sollte. Das andere noch immer innerlich sehr aufgeregte und emotional geknickte Mädel, hatte alles richtig geschrieben; ja, wahrhaftig alle Wörter waren korrekt. Mit dem Rotstift war lediglich markiert bzw. unterkringelt, dass sie die Überschrift nicht Freihand zeichnen soll und jede Textzeile. Unter dem Text stand dann die Aufforderung, das gesamte Diktat bitte nochmals in Schönschrift zu schreiben. Die Interpretation des markanten roten Stiftes, der sich über die ganzen Zeilen zog, von unserer Tochter war: „Ich habe alles falsch geschrieben. Ich kann Deutsch einfach nicht, ich werde es nie lernen und es wird einfach keinen Spaß machen!“ „Oh Gott, ein Glaubenssatz der sich bitte nicht manifestieren soll, weil er überhaupt nicht für unser Mädel stimmig ist“, war mein sofortiger Gedanke. Sie liebt Bücher, Buchstaben und Wörter. Wieso soll ihr die Freude und die Begeisterung daran genommen werden?
Seit geraumer Zeit beschäftigte ich mich mit dem Thema Mindful Learning und emotionale Gesundheit von Dr. Craig Harris. Seine Erkenntnisse sind so simple und doch so bedeutsam im Umgang mit exakt solchen Lernsituationen. Er hat nur eine kleine Stellschraube im Umgang mit Fehlern bei Kindern verändert und das hatte bereits eine riesengroße Wirkung. Er startete ein Versuch, in dem er alle richtigen Wörter der Kinder anstrich und nicht die Falschen. Die Kinder sahen nun grün anstelle von rot! Darüber hinaus stellten alle Kinder fest, dass sie bereits viele Wörter richtig schreiben konnten. Das Selbstbewusstsein und auch die Lernfreude stieg, denn sie hatten jetzt klar vor Augen, dass es auch funktioniert, wenn sie das Gelernte umsetzen. Im zweiten Schritt konnten die Kinder ganz entspannt herauszufinden, warum sie bei den anderen Wörtern ggfs. Fehler gemacht haben. Die Leistungen der Kinder wurden besser und das ganz ohne Rotstift, Tränen und schlechten Noten.
Zum Glück erinnerte ich mich an diesen Vortrag just in diesem Moment. Ich nahm das Diktat unserer Tochter und machte eine schwarz-weiß Kopie. Danach strich ich alle richtigen Wörter grün an. Ihr glaubt gar nicht, wie mächtig dieser Perspektivenwechsel war. Weg von falsch und hin zu richtig, von den fröhlichen Augen meiner nun lachenden Tochter einmal ganz abgesehen. Erst jetzt konnte sie nachvollziehen, dass ihr Diktat tiptop war und es hier lediglich um die Schrift ging, die allerdings keinen bremsenden Einfluss auf ihren Lesespaß und ihre Lernbegeisterung haben darf. Mir geht es darum, unserem Kind zu zeigen, was es alles bereits geleistet hat, denn auf Erfolg lässt sich aufbauen.
Hinweis: Veröffentlichen des Textes und von dessen Auszügen nur mit Erlaubnis der Autorin.
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